Gesamtmetall-Präsident Dr. Stefan Wolf: „Es gibt in diesem Jahr nichts zu verteilen“

Herr Wolf, inzwischen hat die IG Metall Warnstreiks in der Metall- und Elektroindustrie angekündigt. Ließ sich die Eskalation nicht vermeiden?
Manche IG-Metaller-Seelen brauchen wohl ein bisschen Geklapper, aber sinnvoll ist das angesichts der nach wie vor schwierigen wirtschaftlichen Lage unserer Industrie nicht. Nehmen Sie nur die Autobranche: Die hat 2018 weltweit rund 95 Millionen Fahrzeuge gebaut, 2020 nur noch 72 Millionen. Wir sollten die leichte Erholung der Industrie, die wir zum Glück sehen, jetzt nicht durch Warnstreiks gefährden.

Sie sagen, es gibt keinen Verteilungsspielraum, aber Daimler hat gerade Dividenden in Milliardenhöhe ausgeschüttet …
Die für 2020 präsentierten Ergebnisse vieler Unternehmen spiegeln ja nicht die tatsächliche Lage wider. Sie müssen berücksichtigen, dass es Kosteneinsparungen gab, etwa durch die Kurzarbeit oder bei den Reisekosten. Aber die Unternehmen unserer Branche haben 2020 teils 15 bis 30 Prozent Umsatz eingebüßt. Das müssen sie erst mal wieder aufholen.

Aber finden Sie es in Ordnung, dass Daimler trotz zeitweiser Kurzarbeit jetzt die Aktionäre bedient und die Beschäftigten leer ausgehen?
Das ist eine Entscheidung eines Mitgliedsunternehmens, die ich nicht weiter kommentieren möchte. Es gibt viele, die nichts ausschütten. Und man darf ja nicht vergessen, dass wir vor einem tiefgreifenden Strukturwandel stehen, der Geld kostet. Wenn jetzt langsam wieder Geld verdient wird, dann ist es ja auch im Sinne der Mitarbeiter, dass wir ihre Arbeitsplätze absichern.

Die IG Metall will Beschäftigungs- und Standortsicherung, eine Viertagewoche in kriselnden Betrieben, Perspektiven für Auszubildende und mehr Geld. Haben Sie bei einer der Forderungen schon ein Häkchen gemacht?
Nein. Auch uns geht es um zukunftssichere Betriebe und Arbeitsplätze, aber dann müssen die Rahmenbedingungen stimmen. Wir haben mit die höchsten Arbeitskosten pro Stunde weltweit. Wir können über Beschäftigungssicherung reden, aber zu vertretbaren Konditionen. Eine weitere Nullrunde in diesem Jahr

Unsere Branche ist nach wie vor weit unter dem Niveau, das sie vor Rezession und Coronakrise einmal hatte. Deshalb gibt es in diesem Jahr nichts zu verteilen. Und wir können auch nicht immer weiter beliebig draufsatteln. Wir wollen ja gar nicht an die Tabelle ran, müssen aber andere Möglichkeiten für Kostensenkungen finden. Sonst können Sie das irgendwann auch einem Altenpfleger oder einer Verkäuferin nicht mehr vermitteln, die nur einen Teil dessen bekommen, was in unserer Industrie verdient wird.

Was sagen Sie zu Vorwürfen der IG Metall, dass die Arbeitgeber auf den Strukturwandel nur mit Standortschließungen und Stellenabbau reagieren?
Das stimmt nicht, auch wenn viele Unternehmen Verlagerungspläne haben, die sie aber derzeit noch in der Schublade lassen. Aber irgendwann kommt der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Wir brauchen wieder günstigere Arbeitskosten und mehr Flexibilität. In unserer Industrie sind hierzulande seit der Rezession schon 160.000 Arbeitsplätze verloren gegangen.

Ist es nicht verständlich, dass die IG Metall bei der Transformation mitreden will? Schließlich geht es um die Zukunft der Beschäftigten.
Die Gestaltung des Strukturwandels ist eine urunternehmerische Aufgabe und fällt Nullkommanull unter die Mitbestimmung. Ich habe bei Elring-Klinger auch nicht den Betriebsrat gefragt, ob wir in die Brennstoffzellen- oder Batterietechnik einsteigen. Wir haben es einfach gemacht. Den Vorschlag der IG Metall, weniger Arbeit über eine Arbeitszeitverkürzung mit Teillohnausgleich einfach auf mehr Köpfe zu verteilen, halte ich jedenfalls für ziemlich fantasielos und falsch.

Bei ZF Friedrichshafen haben Arbeitgeber und Gewerkschaft einen „Tarifvertrag Transformation“ abgeschlossen, der unter anderem eine Arbeitszeitabsenkung um bis zu 20 Prozent und Kündigungsschutz für zwei Jahre vorsieht. Kann das ein Vorbild sein?
Das ist eine betriebsindividuelle Lösung, die man sicher nicht verallgemeinern kann. Jedes Unternehmen ist sehr individuell.

Sie wollen eine automatische Abweichung vom Flächentarifvertrag bei schlechten wirtschaftlichen Kennzahlen ermöglichen. Warum ist Ihnen die so wichtig?
Wenn wir in der Vergangenheit mit den bestehenden tariflichen Lösungen Entlastungen gebraucht haben, setzte das oft ellenlange Verhandlungen mit der IG Metall voraus. Wenn es Spitz auf Knopf steht, muss es aber schnell gehen. Und viele Unternehmen haben Werke in mehreren Bundesländern. Wenn die von der Fläche abweichen wollen, müssen sie mit mehreren Bezirksleitern der IG Metall verhandeln. Das ist nicht praktikabel.

Können Sie der Warnstreikdrohung der IG Metall nicht gelassen gegenüberstehen? Streiken in Corona-Zeiten ist nicht leicht, und das Verständnis dafür, gerade wieder anlaufende Betriebe lahmzulegen, dürfte sich auch in Grenzen halten.
Uns ist daran gelegen, eine gute Lösung zu finden. Jetzt ist Zeit für Lösungen und nicht für Streiks. Dass sich die IG Metall in Corona-Zeiten mit Präsenzaktionen schwerer tut, liegt auf der Hand. Aber das nutzen wir nicht aus, sondern führen weiter einen konstruktiven Dialog. Ich sehe aber bisher keinen Willen der Gewerkschaft, sich mit unseren Argumenten zu befassen.

Fürchten Sie, dass es in der Metall- und Elektroindustrie noch zu einer Insolvenzwelle kommt?
Ich glaube, dass andere Branchen noch stärker betroffen sein werden. Aber vielen Unternehmen in unserer Industrie geht es nicht gut, aktuell meldet knapp die Hälfte der Betriebe mittlere bis sehr starke Produktionseinschränkungen. Aber sie werden sich wahrscheinlich schon wieder berappeln – wenn wir keine weiteren Kostenpositionen aufbauen.

Am 3. März werden die Regierungschefs aus Bund und Ländern erneut über die Corona-Politik beraten. Was erhoffen Sie sich von den Gesprächen?
Am Anfang war die Corona-Politik gut strukturiert und klar. Was jetzt fehlt, sind eine klare Vision und ein klares Ziel. Die Menschen brauchen eine Perspektive. Die Beschäftigten wollen mal wieder aus dem Homeoffice in die Firma, wollen Kontakt zu Kollegen. Das soziale Element ist nicht zu unterschätzen.

Müssten Sie als Industrievertreter nicht für eine Verlängerung des Lockdowns in Einzelhandel und Gastronomie sein, um eine Verbreitung der Virusmutationen zu verhindern, die auch die Produktion gefährden könnte?
Die Pandemie ist ein gesellschaftliches Thema, und wir haben als Industrie auch eine Verantwortung für die gesamte Wirtschaft. Auch die Gastronomie oder der Handel brauchen eine Perspektive und vor allem eine klare Linie.

Es könnte eine regional gestaffelte Öffnung geben, je nach Inzidenzwert …
Das stelle ich mir schwierig vor. Nehmen wir an, Reutlingen hat eine Inzidenz von 70 und Tübingen von 25, und Tübingen macht die Geschäfte auf. Wie wollen Sie dann verhindern, dass die Reutlinger die 15 Kilometer nach Tübingen zum Einkaufen fahren? Wir brauchen eine klare Linie.

Hat die Regierung Fehler gemacht?
Zur Öffnungsdiskussion gehört eine vernünftige Impfstrategie und auch, dass man genug Impfstoff beschafft, was leider versäumt wurde. Auch massenhafte Schnelltests sollten, wie vom Gesundheitsminister bereits angekündigt, jetzt auch wirklich kommen. Hier können auch die Unternehmen etwas beitragen. Bei Elring-Klinger schicken wir jeden Tag ein Testmobil für die Mitarbeiter zu einem der Standorte. Das kostet uns zwar viel Geld, schafft bei unseren Beschäftigten aber Sicherheit und Vertrauen.

Bereiten die erneuten Grenzkontrollen der Metall- und Elektroindustrie Probleme?
Es gibt viele Firmen in grenznahen Regionen mit einer großen Zahl von Berufspendlern. An einigen Stellen hat das bereits zu Problemen geführt.

Die Lieferketten sind aber – anders als im ersten Lockdown – noch nicht gestört?
Der Warenverkehr von einem Land ins andere läuft noch ganz gut. Aber wir müssen unbedingt verhindern, dass Grenzschließungen für Waren und Pendler oder gar Betriebsschließungen Lieferketten unterbrechen und Produktionen lahmlegen. Probleme gibt es im Moment aber eher, weil wir nicht genug Speicherchips bekommen. Und wir sehen eine massive Verknappung beim Stahl, die uns Sorgen macht.

Dieses Interview ist im Handelsblatt erschienen.