Hessenmetall-Verhandlungsführer Oliver Barta: „Es gibt nichts zu verteilen“

Herr Barta, Sie haben kürzlich ausgeführt, dass die generelle wirtschaftliche Situation der Branche schlecht sei. Muss man dieses Bild trotz Corona nicht etwas differenzierter zeichnen?
Wenn man das dritte Quartal 2020 nicht unzulässigerweise mit dem zweiten, sondern mit dem dritten Quartal 2019 vergleicht, beträgt das Minus in der Produktion 17,8 Prozent. Das ist ein alarmierender Wert, denn 2019 war schon ein Jahr der Rezession. Zwar haben die IT-Branche, die Medizintechnik oder die baunahen Branchen wie zum Beispiel die Heizungstechnik ein durchaus ordentliches Jahr hinter sich. Aber im Maschinenbau, bei den Autozulieferern, der Luftfahrtindustrie oder in der Metallerzeugung, die alle in Hessen eine große Rolle spielen, sieht es eben ganz anders aus.

Sie sagen deshalb, dass in den anstehenden Tarifgesprächen schon eine Nullrunde ein Kompromiss wäre. Ist das wirklich eine haltbare Position, oder wird man sich nicht am Ende doch irgendwo treffen müssen wie etwa im Öffentlichen Dienst?
Die Tarifhistorie bei uns ist eine völlig andere als im Öffentlichen Dienst, weil wir uns auf klare Benchmarks verständigen. Es gibt dazu auch gemeinsame Positionen, auf deren Basis 2018 die letzte Entgelterhöhung zustande gekommen ist. Aber schon 2019, also vor Corona, hat sich die Lage gedreht. Jetzt haben wir eine negative Produktivitätsentwicklung und dazu eine Inflationsrate unter Null. Aber minus mal minus gibt in diesem Fall kein zu verteilendes Plus.

Die IG Metall hat flexiblere Arbeitszeitregelungen bei teilweisem Lohnausgleich ins Spiel gebracht.
Flexibilisierung ist grundsätzlich begrüßenswert, der Tarifvertrag ermöglicht auch heute bereits eine Arbeitszeitabsenkung. Insofern begrüßen wir auch, dass die IG Metall Bechäftigungssicherung in den Vordergrund stellt. Dann darf man aber auch nicht die Arbeit immer teurer machen, deshalb sind wir strikt gegen einen Teillohnausgleich. Wir hatten in den letzten zehn Jahren in Summe einen Produktivitätszuwachs von drei Prozent, aber einen Entgeltzuwachs von 30 Prozent.

Die Gewerkschaft hat ferner angeregt, sich zunächst nur über die nächsten zwölf Monate zu unter-halten. Sehen Sie dann hier Spielräume?
Da hat sie ja nur einen Zeitraum angegeben, dem sie ihre Entgeltforderung zuordnete. Eine Einschätzung für die Zukunft fällt nicht nur wegen Corona schwer. Wir stecken mitten im Strukturwandel Richtung Automatisierung und alternativen Antrieben. Der benötigt erhebliche Investitionen. Die Betriebe brauchen, um diesen gewaltigen Wandel stemmen zu können, Planungssicherheit, also eher eine längereLaufzeit von mindestens 27 Monaten.

Aber wäre nicht irgendein Hoffnungssignal angebracht? Anders gefragt: Wann könnte die Corona-Talsohle durchschritten sein? Welche Indikatoren liegen Ihrer Einschätzung zugrunde?
Wir haben bislang alle Krisen bewältigt, wenn wir gemeinsam angepackt haben. Aktuell ist in 85 Prozent der Unternehmen die Produktion nach wie vor durch die Pandemie eingeschränkt. Die Unternehmen kämpfen sich schrittweise aus dem historischen Umsatztief. Ein Viertel der Beschäftigten ist immer noch in Kurzarbeit. Zudem ist die Beschäftigtenzahl in Hessen schon vor Corona innerhalb einesJahres um 10.000 zurückgegangen. Die Schwere der Krise zwingt immer mehr Unternehmen, auch über Arbeitsplatzabbau nachzudenken. Es muss aber unser oberstes Ziel sein, vor allem die Industriearbeitsplätze zu erhalten. Unsere Industrie hat einen großen Hebeleffekt auf Handel, Handwerk und Dienstleistungen. Der Strukturwandel wird nicht gelingen, wenn aus Industrie- Servicearbeitsplätze werden.

Noch mal gefragt: Wie lange wird Corona wirken?
Vor 2025 sehe ich keine Struktur, auf der wir eine gewandelte Industriestabil aufbauen können. Laut unserer aktuellen Umfrage rechnen 25 Prozent unserer Unternehmen damit, die Lage vor der Krise erst ab 2022 wieder zu erreichen. Etliche gehen davon aus, dass dies erst später, teilweise erst Mitte des Jahrzehnts der Fall sein wird.

Wo stehen wir denn bei Digitalisierung und Automatisierung?
30 Prozent der Unternehmen investieren bereits heute mehr als 6 Prozent des Umsatzes in die Digitalisierung. Corona beschleunigt den Digitalisierungsprozess noch. Aber die Krise beschert niedrigere Einnahmen und die Bewältigung benötigt ebenfalls Geld. Eine schwierige Gemengelage für die Betriebe. Die digitale Transformation hat auch massive Auswirkungen auf die Beschäftigten: Wir brauchen nicht nur Spezialisten, sondern sehr gut ausgebildete Anwender. Umgekehrt erwarten wir von den Beschäftigten, dass sie sich fortbilden und beschäftigungsfähig halten. Ich denke, dass wir alle Chancen haben, wettbewerbsfähig zu bleiben. Jedes Unternehmen muss da ganz genau hinschauen und seine ganz eigene Balance finden.

Und wann wir des doch wieder Verteilungsspielräume für Lohn- und Gehaltssteigerungen geben?
Wenn wir das Vorkrisenniveau von 2018 wieder erreicht und echtes Wachstum haben: vielleicht nach 27 Monaten. Ich sehe Licht am Ende des Tunnels: Entscheidend ist für unser Land, dass wir in der Industrie vorankommen, die Zukunft einer digitalen Welt gestalten, unsere Wettbewerbsfähigkeit sichern und steigern, damit wir künftig nicht nur Krisengespräche führen.

Dieses Interview ist im Darmstädter Echo erschienen.