Interview zum 70. Geburtstag des Unternehmerverbands Südhessen.

Darmstadt. Die Unternehmer tragen Blaumann, Laborkittel, Anzug oder Jeans. Doch die Gelegenheiten, sich über diese Branche hinweg auszutauschen, sind rar. Der Unternehmerverband Südhessen vertritt heute 395 Firmen aus der Region, vom alteingesessenen Industrieunternehmen bis zum IT-Start-up, und ermöglicht branchenübergleifenden Dialog. Den 70. Geburtstag in diesem Jahr wollte man im Sommer gemeinsam feiern, aber das war wegen der Corona-Pandemie nicht möglich. Vorstandsvorsitzender Claus Lau und Geschäftsführer Dirk Widuch blicken nun zurück – und sehen Parallelen zu den Anfangsjahren.

Heute vor 70 Jahren – wie hat alles begonnen?
Widuch: In der NS-Zeit wurden die Gewerkschaften zwangsaufgelöst und es gab auch keine Arbeitgeberverbände mehr. Nach Kriegsende haben sich die Gewerkschaften neu gegründet und dem wollte man ein Gegengewicht entgegensetzen. 1948 hat sich dann die Bezirksgruppe Darmstadt von Hessenmetall gegründet. Zwei Jahre später folgte der branchenübergreifende Verband mit dem Namen Gesamtverband industriel­ler Arbeitgeber in Darmstadt und Süd­hessen.

Wer waren die Gründungsmitglie­der?
Widuch (zeigt die Kopie eines histori­schen Dokuments): Hier sind alle 15 Firmen aufgelistet. MAN, Röhrn, Merck und Goebel waren zum Beispiel dabei.

Welche Themen gab es in der Anfangszeit, welche heute?
Lau: Nach dem Krieg war der Wieder­aufbau das große Thema. Auch die Kontakte und Netzwerke mussten neu aufge­baut werden. Und natürlich wollte man den eigenen Bedürfnissen Gehör ver­schaffen – ähnlich wie heute, wenn es um Themen wie die Probleme der Auto­industrie, Umwelt oder die Pandemie geht und wir die Interessen gegenüber der Politik vertreten.

Widuch: In den Anfangsjahren standen Arbeits- und Sozialrechtsfragen im Vor­dergrund. 1954 hat der Verband dazu die erste Personalleitertagung organi­siert. Hinzu kam das Thema Ausbil­dung, 1977 mit der Gründung eines Ausbildungsleiterkreises. 1978 wurde schon der Arbeitskreis Schule-Wirt­schaft gegründet, den es bis heute gibt. Der Verband öffnete sich für neue Bran­chen und benannte sich um in Gesamt­verband der Arbeitgeber in Südhessen. Den heutigen Namen haben wir seit 1998, damals begleitet vom Motto „Wir unternehmen was“, um den Begriff posi­tiver zu besetzen.

Wie hat sich die Verbandsarbeit gewandelt?
Widuch: Ich bin jetzt seit 25 Jahren hier. Als ich anfing, hatten wir etwa zehn Mitarbeiter. Ich hatte einen Schreibtisch mit Telefon, ab und zu kam ein Fax und jeden Tag die Post. Die Briefe hat man beantwortet und dann erst wieder nach einer Woche etwas gehört. Über die Jahre haben Service- und Beratungs­dienstleistungen an Bedeutung gewon­nen. Heute bekommen wir eine sehr viel höhere Zahl von Anfragen, die auch sehr viel tiefgehender sind als früher, und das meistens per Mail.

Lau: Die Menge und die Geschwindig­keit haben deutlich zugenommen. Ant­worten werden oft sofort erwartet.

Widuch: Der Austausch mit den Mit­gliedsunternehmen ist enger geworden, wir werden viel eher eingebunden als früher. Heute sind wir 22 Mitarbeiter, davon elf Arbeitsrechtsspezialisten. Wenn ein Unternehmen mit einem Thema auf uns zu kommt, können wir das von der ersten Idee bis zu Umset­zung mitgestalten.

Was sind das für Themen?
Widuch: Wir bieten Beratung in arbeits- ­und sozialrechtlichen Fragen und vertre­ten unsere Mitglieder auch vor den Arbeitsgerichten. Auch wenn ein Betrieb etwa ein neues Arbeitszeitmo­del! einführen will, können wir das begleiten und viele andere Themen mehr.

Lau: Wir sind auch viel präventiv tätig, informieren über Arbeitsschutz, die Datenschutzgrundverordnung oder unterstützen bei Betriebsvereinbarun­gen.

Wie hat sich die Mitgliederstruktur verändert?
Widuch: In etwa so wie sich die Unter­nehmensstruktur in Südhessen verän­dert hat. Hier beobachten wir einen Branchenwandel hin zu Dienstleistun­gen, IT und Beratung. Die Industrie ist dagegen leider auf dem Rückzug.

Lau: Zu unseren Mitgliedern gehören produzierende Betriebe genauso wie ein großes Architektenbüro oder ein Garten­bauer. Stark vertreten ist auch der Gesundheitssektor.

Was ist das Besondere an dem bran­chenübergreifenden Austausch?
Widuch: Wir versuchen beispielsweise Start-ups einzubinden, auch aus dem Umfeld der TU. So bieten wir eine Platt­form, auf der sich Studenten und IT­Visionäre mit langjährigen Unterneh­mern aus anderen Branchen austau­schen können.

Lau: Durch die Kontakte können Syner­gien entstehen, die sonst nicht möglich wären, ein Stück Silicon Valley auf der einen und Erfahrung auf der anderen Seite.

Welche Veränderungen hat Corona gebracht?
Widuch: Wir konnten zeigen, dass wir als Verband für unsere Mitglieder da sind. Es gab einen Ansturm an Anfra­gen und wir konnten alle beantworten – vor allem durch digitale Unterstützung. Wir hatten bisher 40 Online-Seminare mit 1800 Teilnehmern. In 20 bis 25 Prä­senzveranstaltungen im Jahr hatten wir früher nur 600 bis 800 Teilnehmer. Das hat für große Mitgliederbindung gesorgt.

Was wollen Sie davon beibehalten?
Lau: Die Online-Seminare werden wir weiter anbieten und für häufige Fragen auch Erklärvideos. Außerdem haben wir uns öfter über Videokonferenzen im Vorstand abgestimmt, das sehe ich auch positiv. Grundsätzlich beflügelt die Pandemie die Digitalisierung – das kann eine Chance für unseren Standort sein. Im Vergleich mit Ländern wie in Skan­dinavien oder den USA war Deutsch­land bislang abgehängt.

Auf welche weiteren Trends stellt sich der Verband ein?
Lau: In den 50er Jahren wurde der VW­Käfer produziert – als Massenprodukt. Heute geht der Trend zum Individuellen, alles wird kundenspezifisch. Durch Künstliche Intelligenz ist das möglich. Mit der TU haben wir das Wissen vor Ort. Jetzt geht es darum, es in die Betriebe zu bringen.

Widuch: Eine unserer größten Aufga­ben ist es, dazu beizutragen, die Beschäftigung in der Region nicht nur bleibt, sondern aufgebaut werden kann. Damit die Arbeitsplätze nicht ins Aus­land wandern, brauchen wir eine kluge Tarif-, Standort- und Verkehrspolitik.

Zum DGB-Haus sind es zu Fuß nur drei Minuten. Hilft das beim Aus­tausch mit den Gewerkschaften?
Lau: Ja, natürlich. Gerade mit der IG Metall treffen wir uns regelmäßig. Auch mit den anderen sind wir im Dialog. Wir müssen sehen, was wir in der schwieri­gen Situation gemeinsam erreichen kön­nen.

Wie hart hat die Krise die Mitglieds­unternehmen getroffen?
Lau: Die Metall- und Elektroindustrie und vor allem der Maschinenbau sind stark betroffen. Wir hoffen, dass unsere Mitglieder die Krise überstehen.

Was kann der Verband beitragen?
Widuch: Es gibt viele Anfragen für Restrukturierungen. Wir haben sehr viele berufserfahrene Anwälte bei uns, aber diejenigen, die erst fünf oder zehn Jahre dabei sind, ist das neu – sie haben noch keine Krise kennengelernt und befassen sich jetzt mit Themen wie Interessenausgleich und Sozialplänen. Manches muss erst trainiert werden. Die Firmen müssen neue Pläne entwickeln und sich auf die Situation einstellen. Wir unterstützen sie. Gemeinsam muss man einen Weg aus der Krise finden wirtschaftlich und gesellschaftlich.

Dieses Interview ist im Darmstädter Echo erschienen.